Ein ermutigender Text...


EINE ALTERNATIVE VÖLKERGEMEINSCHAFT

Horst-Eberhard Richter

Mehr als eine Million in London, 1,3 Millionen in Barcelona, 600.000 in Madrid, 1.000.000 in Rom, eine halbe Million in Berlin, 200.000 in Sydney, Hunderttausende in New York, Chicago, Detroit und Miami - am 15.2. formierten sie sich zu einer großen Weltgemeinschaft einen Tag nach der denkwürdigen Sitzung des Weltsicherheitsrates in New York, wo die versammelten UN-Botschafter mit einem ganz unüblichen Beifall die Friedensrede des französischen Außenministers Villepin gefeiert hatten. Es war, als hätte sich mit diesem Applaus eine Spur des Geistes jener Bewegung in den UNO-Palast geschlichen, der anderen Tages durch die Metropolen der Welt und tausende von kleineren Städten wehte.

Seit Wochen hatte sich ein Häuflein von Initiatoren auf den 15. Februar als internationales Demonstrationsdatum verständigt. Aber niemand hatte mit dem Massenzustrom gerechnet, der die großen Städte wie in monumentale Feststadien verwandelte. Was sich da traf, ist eine neue pluralistische Bewegung die nirgends nur einseitig von einem politischen oder ideologischen Flügel oder von herausragenden Galionsfiguren dominiert wird. Die Veteranen der alten linken und grünen Protestformationen sind noch dabei. Große Anteile bilden neuerdings Gewerkschafter und kirchliche Gruppen, nachdem auch die großen christlichen Kirchen so einmütig und entschieden wie nie zuvor auf den Anti-Kriegskurs eingeschwenkt sind, der Papst vornean. Zu einer ganz bedeutenden integrierenden Kraft hat sich in Europa attac entwickelt, das sich in vielfältiger Weise mit den herkömmlichen sozialen Bewegungen vernetzt hat und vielleicht am treffendsten den Geist des neuen Engagements ausdrückt.

Wenn am 15.2. überall die erwarteten Demonstrantenzahlen um ein Mehrfaches übertroffen wurden, so ist das ein Zeichen, dass man erst die neuen Hunderttausende oder Millionen kennen lernen muss, die überraschend dazugekommen sind. Man weiß zunächst nur, dass sie gegen den Irak-Krieg mit ihren Füßen abstimmen wollen - und dies, obwohl ihnen die mächtigen internationalen Medienkonzerne seit Monaten einreden, der geplante Angriffskrieg gegen den Irak diene einzig der präventiven Verteidigung gegen das waffenstarrende Monster im Irak. Aber warum sind die Massen immun gegen den exorzistischen Kriegswillen der Bush-Regierung? Sicherlich nicht aus Sympathie für Saddam Hussein.

Wenn man in vielen Protestveranstaltungen bei den engagierten Teilnehmern herumhört, findet man, dass die Menschen den Irak-Kriegsplan eher als Symptom einschätzen für das Streben nach einer Vollendung einer zutiefst ungerechten und letztlich menschenfeindlichen Weltunordnung. Sie wittern, dass Hunderttausende von Men-schen geopfert werden sollen zur Eroberung des irakischen Öls. Aber es ist ihnen auch nicht die neue amerikanische Debatte entgangen, in der von der erstrebten Verwestlichung des gesamten mittelöstlichen islamischen Raumes über einen Brückenkopf Irak die Rede ist. Verwestlichung gedacht als Komplettierung der Herrschaft Amerikas und der transnationalen Konzerne über die angrenzenden arabischen Länder bei gleichzeitiger Entmachtung der islamischen Kultur.

Was die neu aufgerüttelten Millionen auf die Straßen treibt, ist keine Ideologie, auch kein klar definierbares Konzept. Aber es ist ein als ganz sicher erfahrenes Gespür dafür, dass die auf eine Weiterentwicklung von Menschlichkeit gegründete Zivilisierung in elementarer Gefahr ist; dass ein Krieg, bei dem Millionen ins Elend, in die Flucht oder in den Tod getriebenen Menschen als "Kollateralschäden" weggedacht werden zugunsten von Macht, Geld und Öl - einen Absturz in eine verheerende Entzivilisierung bedeutet. Irgendwie ist den neuen Millionen auf den Friedensmärschen bewusst, dass sie der Wild-West-Philosophie der Kriegsmacher menschlich überlegen sind. Das gibt ihnen ein erstaunliches Gefühl von Selbstachtung und Selbstsicherheit. Daher fehlt ihren Großveranstaltungen neuerdings jede Militanz. Es ist, als wüssten alle, dass sie eine enorme moralische Macht darstellen - jenseits der Macht der internationalen Rüstungskonzerne und der von diesen beeinflussten Politiker und Medien. Sie halten unbeirrbar an der Charta der Vereinten Nationen und den Völker- und Menschenrechten fest, auf die sich die internationale Gemeinschaft nach dem Inferno des Hitler-Krieges verständigt hatte, als aus den inneren Verwüstungen durch die Kriegsbarbareien das Bewusstsein von der Ebenbürtigkeit und Gleichberechtigung der Menschen, der Völker und Kulturen erwacht war.

In einem öffentlichen Appell der Internationalen Ärzte für Frieden und soziale Verantwortung habe ich die aktuelle geistige Situation so zu fassen versucht: "Die Welt steht vor der Wahl, entweder einen brutalen imperialen Eroberungskrieg nach Vorbildern des Kolonialzeitalters zu unterstützen, oder an der notwendigen Demokratisierung der internationalen Gemeinschaft weiterzuarbeiten und für das Ziel einer Kultur der Menschlichkeit und des Friedens zu kämpfen."

Als ich diesen Satz am 15.2.2003 vor 50.000 Teilnehmern auf der Stuttgarter Friedensdemonstration ausgesprochen hatte, bekam ich durch die lang anhaltende Zustimmung zu spüren, dass in den Menschen die Ahnung von diesem Entweder Oder lebendig ist. Sie wissen, dass sie kurzfristig verlieren können, wenn sich Bush und die Scharfmacher um ihn herum trotz der Stürme des Widerstandes, die sie entfacht haben, zum Durchspielen ihres High-Noon-Stückes entschließen sollten. Aber die erwachte Gegenvision von einer menschlicheren, sozialeren und gerechteren Welt lässt sich nicht mehr ersticken. Sie hat sich sogar in dem Maße verstärkt, in dem die Verdummungskampagne der Kriegspropaganda ihre Verlogenheit zunehmend bloßgelegt hat.

Es ist ganz offensichtlich, dass sich die Bush, Powell, Rumsfeld verrechnet haben, als sie sich vor Monaten noch einbildeten, sie könnten sich den Sicherheitsrat nach Belieben gefügig machen und mit den Waffeninspekteuren eine Art Marionetten-Theater aufführen. Daran gewöhnt, die Widerstände in der Weltorganisation durch erprobte Macht- und Erpressungsmittel ersticken zu können, gerieten sie zunehmend in Verlegenheit und verschlimmerten ihre Lage noch durch die mehrfache Drohung, die UN bei Unfolgsamkeit einfach zu missachten und allein loszuschlagen. Vielleicht werden sie ihre Drohung auch wahrmachen und damit ihre rücksichtslose Egomanie definitiv enthüllen, für die sie mit dem Ausscheren aus der Weltklima-Konvention und mit der Sabotierung des Weltstrafgerichtshofes bereits unmissverständlich Zeugnis abgelegt haben.

Niemand wird die Bush-Regierung hindern können, nach John Wayne-Muster erklärte Weltschurken aus dem Felde zu schlagen und unbotmäßige Freunde zu schikanieren. Aber was sie momentan im Sicherheitsrat erlebt und was von unten als neue soziale kritische Weltbewegung zusammenwächst, dürfte ihr dennoch gefährlich werden. Denn bisher vermochten die Amerikaner ihre Größen- und Allmachtsträume noch immer mit einem religiösen Berufungsglauben zu versöhnen. Sie glaubten und glauben sich z.T. noch immer ausersehen, das Urböse in Gestalt der Noriegas, Ghaddafis, Milosevics, Bin Ladens und nunmehr Saddam Husseins auszutilgen. General Thomas Farrel, Augenzeuge des Hiroshima Infernos, berichtete Präsident Truman von der Entfesselung der Kräfte des Allmächtigen durch Menschenhand. Das Bombenflugzeug war vor dem Start christlich eingesegnet worden - nach Günther Anders "wohl der erschreckendste Missbrauch, der in der christlichen Ära je geschehen, ohne dass die Gläubigen ihrem Christentum in dieser Situation zu Hilfe gesprungen wären".

Aber bis heute funktioniert diese amerikanische Schuld- und Mitleidsverdrängung im Bewusstsein des nationalen Auserwähltseins. Die lange geplante Hiroshima-Erinnerungsausstellung zum 50. Jahrestag des Bombenabwurfs ließ man einfach verbieten. Es soll eine heroische Erfolgsgeschichte bleiben. Dahinter steckt die Kraft einer phantastischen Egomanie, der Wahn einer nationalen Selbstvergöttlichung, aber immer verbunden mit der Besessenheit, sich die größenwahnsinnige Selbstidealisierung durch ewige Reproduktion des High-Noon-Szenarios bestätigen zu müssen. In unendlicher Wiederholung muss man wie der heilige Georg in dem eineinhalb Jahrtausende alten Mythos den Drachen töten. Man braucht zum Niederkämpfen ewiger ödipaler Unsicherheit ständig den Sieg über die Herren der Finsternis als Selbstbeweis. Der Läuterungsheld benötigt den weltbedrohenden Feind für die heroische Heilsgeschichte, keinesfalls einen kastrierten Saddam Hussein ohne atomare, chemische oder biologische Weltbedrohung. Bin Laden und Saddam müssen, so wenig der Terror des einen mit der Tyrannei des anderen etwas gemeinsam hatten, zu einer einzigen gigantischen Teufelsgestalt verschmelzen, um das ödipale Duell zum heroischen Läuterungsdrama verklären zu können.

Nun aber scheren im Sicherheitsrat wichtige Mitspieler aus den Rollen aus, in die sie sich nach dem 11. September noch willig gefügt hatten. Sie sehen sich nicht mehr als Helfer eines durch Terror traumatisierten Amerika, sondern zu Handlangern einer Hegemonialmacht degradiert, die sich über alle Gebundenheiten in egomanischer Selbstvergöttlichung hinwegsetzt und mehr und mehr selbst die Züge hervorkehrt, die sie ihren dämonisierten Feinden zuteilt.

Erste Anzeichen lassen vermuten, dass den Amerikanern erst recht dann, wenn sie ihre kriegerische Invasion trotz allem starten sollten, ein geistiger Widerstand aus unerwarteter Richtung erwachsen könnte. Gewöhnt sind sie die Inszenierung: Entweder ihr seid für uns, für das Gute oder ihr seid für die Terroristen, für Saddam Hussein, für das Böse. Aber nun kommt eine Friedensbewegung mit einem neuen moralischen Selbstbewusstsein daher, die sich nicht auf diesen Dualismus einlässt. Die auf die Kraft der sozialen Verantwortung und der Versöhnung baut, mit der etwa Nelson Mandela und Bischof Tutu ein unvermeidlich scheinendes großes Blutvergießen in Südafrika verhindert hatten. Nach der Definition von Hans-Eckehard Bahr trifft damit ein "national durchtränkter" amerikanischer Religionstypus auf eine "universalistisch menschenrechtlich orientierte Religiosität", die in der neuen Friedensbewegung immer deutlicher durchschimmert.

Der Terror vom 11. September hatte Bush kurzfristig sogar ermutigt, zu einem Kreuzzug aufzurufen. Aber auch nach Verzicht auf diese Benennung blieb er bei seinem fundamentalistischen Ansturm gegen die Mächte des Bösen. In seiner berühmten Nashville-Rede beschwor er alle christlichen Tugenden, darunter das Mitgefühl, aber ausdrücklich auf das eigene Land gewendet, nicht etwa umfassend im Sinne des universalistischen Religionstyps. Wenn Nelson Mandela Bush Beschränktheit ankreidet, so meint er wohl gerade diese Einengung des moralischen Horizontes. Aber nun stößt diese nationale amerikanische Selbstheiligung auf eine Bewegung, in der gerade die Überwindung des manichäistischen Denkens zu den zentralen Antrieben zählt. Die christlichen Gruppen, attac, die Gewerkschaften und die Friedensärzte, aber auch einen Großteil der Unorganisierten eint das Bewusstsein einer Verbundenheit über alle Grenzen. Sie spüren Mitverantwortung für das Schicksal der potentiellen Opfer im Irak. Und sie stehen entschlossen für eine Weltordnung ein, in der kein religiös drapierter Machtegoismus die Menschheit in selbstgerechte Sieger und abgehängte Verlierer spaltet. Über die Länder und Kontinente hinweg drängt es viele Millionen Menschen, wie sich am 15.2. gezeigt hat, die ernsteste Friedensbedrohung derjenigen Regierung anzulasten, die sich selbst zur exorzistischen Austreibung des Bösen berufen erklärt. Dieser Protest trägt nicht die giftige Farbe des Ressentiments und des Neides, sondern strahlt die Selbstgewissheit überlegener Verantwortungsreife aus. Der lässt sich nicht durch die pubertären Mythen des High-Noon-Mentalität blenden, sondern besteht schlicht auf der Einhaltung des Völkerrechts und der Unterordnung aller unter die Gemeinschaftsverpflichtungen zur Wahrung des Friedens und der Gerechtigkeit.

Wie immer die Machtriege Washingtons die Widerspenstigen im Sicherheitsrat noch unter Druck setzen mag oder ob sie letztlich den militärischen Alleingang doch noch riskiert - moralisch ist sie in eine unerwartete Defensive geraten, denn mit ihrem manächistisch-apokalyptischen Weltbild kann sie eine Bewegung nicht länger einschüchtern, die das tarnende Blendwerk vor einem rigorosen kolonialen Machtegoismus klar durchschaut. Washington hat die Chance verpasst, die Welle der Anteilnahme und der Solidarisierung nach dem 11. September für eine besonnene Reaktion im Rahmen der internationalen Rechtsordnung zu nutzen, anstatt sich zu einem Rachefeldzug auf dem Niveau der gleichen Brutalität wie derjenigen der Angreifer zu erniedrigen und nun sogar zu einem imperialen Eroberungskrieg anzusetzen. Die Amerikaner mögen siegen und noch einmal siegen, aber sie sind dabei, die weltweit herausgeforderten moralischen Widerstandskräfte zu unterschätzen, gegen die kein Raketenabwehrschild, keine CIA, keine Homeland Security Schutz garantieren.


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