Überfall der Warburger auf Wethen
Eine spätmittelalterliche Verteidigungsanlage um Kirchturm und Friedhof, von Dr. Hermann Steinmetz, Karlsruhe.

Aus: Mein Waldeck. Beilage der Waldeckischen Landeszeitung für Heimatfreunde, November 1969

Zwischen Waldeck und der zum Bistum Paderborn gehörigen Stadt Warburg bestanden langandauernde Differenzen wegen der Besitzungen Waldecks nördlich der Diemel bei Billinghausen und wegen des Asseler Holzes, das Warburg beanspruchte. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen fielen 1542, 1544 und im Juli 1547 Warburger in Billinghausen und in Wethen ein.

Prozeß beim Reichskammergericht
Wegen dieser Einfälle gab es einen bis zum Reichskammergericht laufenden Prozeß. 1553 wurde ein kaiserlicher Commissarius eingesetzt, der durch Verhör von 38 Zeugen die Verhältnisse klären sollte. Näheres findet man im Ortssippenbuch von Wethen (www.wethen.de/sippgren.htm). Die Aussagen der 38 verhörten Zeugen finden sich im Staatsarchiv Marburg unter 115/26/27.

Aus Wethen wurden 1553/54 sechs Männer verhört, nämlich
Pastor Henrich Gock, 60 Jahre alt, geboren in Wethen, hat seinerzeit in Erfurt studiert,
Johannes Gock, Bruder des Pastors, über 60 Jahre alt, seit 40 Jahren Meier auf einem dem Spital der Stadt Warburg gehörenden Hofe, den schon sein Vater und sein Großvater untergehabt hatten,
Jaspar Haurand, über 30 Jahre alt, geboren zu Wethen. Er gab bei Gericht an, er sei Zugehöriger (Leibeigener) des Bischofs von Paderborn wegen seiner zu Großeneder bei Warburg geborenen Mutter. Er habe sich aber freigekauft, worüber er gute Siegel und Briefe habe. (Anmerkung von Hermann Steinmetz: Das Institut der Leibeigenschaft hat es anscheinend im 16. Jahrhundert in Waldeck nicht mehr gegeben. Aus den Akten des Staatsarchivs Marburg ist mir nur noch ein einziger anderer Fall bekannt, der aber auch nach Westfalen zeigt.)
Hermann Haurand, über 40 Jahre alt, geboren in Wethen, Kastenherr dortselbst.
Jost Schlechter, 34 Jahre, geboren in Wethen.
Curt von Warburg, über 77 Jahre alt, geboren zu Weghen. Sein Vater Hans von Warburg sei über 100 Jahre alt geworden.

Ein stattlicher Haufen
Aus den Zeugenaussagen der vorstehenden Männer ergibt sich folgendes Bild der Vorfälle vom Juli 1547: Jaspar Haurand war im Felde gewesen, um Heu zu holen, als er die Anrückenden bemerkte. Es sei ein stattlicher Haufen gewesen zu Fuß und zu Roß, in Harnisch und Wehr, mit langen Spießen, Hellebarden und Partisanen und einem von zwei oder drei Pferden gezogenen Geschütz. Dem Haufen sei einer vorangelaufen, der unentwegt etwas von Totschlagen gerufen habe.
Er sei jetzt schnellstens nach Hause gefahren, habe seine Pferde stehengelassen, um auf den Kirchhof und den Kirchturm zu gelangen. Aber seine Magd sei ihm begegnet und habe ihm berichtet, daß das den einzigen Zugang bildende Tor geschlossen sei. Dann sei er wieder nach Haus, habe seine geladene Büchse ergriffen und sie gut versteckt, dann sei er auf den Balken (seiner Scheune?) gestiegen.
Von da habe er gesehen, daß die Warburger Bürgermeister Johann Geier und Henrich Neussen zunächst nicht mit eingeritten seien. Das Geschütz habe man hinter seines Nachbarn Haus vor das Tor zum Kirchhof geführt, um das verschlossene Tor aufzuschießen.
Als er das gesehen habe, sei er "vom Balken herübergelaufen", um seiner schwangeren Hausfrau zu sagen, sie solle schleunigst in den Keller gehen. Über den Einsatz des Geschützes habe es unter den Angreifern Auseinandersetzungen gegeben. Man fürchtete, es könnten auch durch die Kanone einige der auf der anderen Seite des Kirchhofs Stehenden getroffen werden. Es ging nun der Ruf, man solle doch einfach das ganze Dorf anstecken, was die Bestürzung der armen Wethener arg vermehrte.

Fluchtburg inmitten des Dorfes
Kirchturm und Kirchhof in Wethen bildeten eine Art Fluchtburg innerhalb des Dorfes: Der Kirchturm war von der Kirche aus, deren Türen offengestanden hätten, nicht erreichbar, sondern nur über den Kirchhof zugänglich. Der Kirchhof, dessen eine Seite der Kirchturm und Teile der Kirchenmauer bildeten, war ringsum mit gemauerten Spiekern (Vorratshäuser) umstanden und hatte nur an einer Seite neben dem Kirchturm ein starkes Tor, das von innen durch einen "Stock" geschlossen werden konnte. Diese Anlage war vermutlich das Ergebnis mehrfacher unangenehmer Erfahrungen. Im vorliegenden Falle aber war das Tor anscheinend zu frühzeitig geschlossen, denn es gaben verschiedene Zeugen an, diese Zuflucht nicht mehr erreicht zu haben. Die Warburger richteten ihren Angriff auch sofort gegen diese Anlage. Für die Stärke derselben spricht der Umstand, daß es den Angreifern nicht möglich war, das Tor aufzubrechen, weshalb sie auf den Gedanken kamen, es mit dem Geschütz aufzuschießen. Der Pastor Henrich Gock hatte die Zuflucht des Kirchturms auch nicht mehr erreicht, mußte umkehren und dann aus dem Fenster seiner Stube zusehen, wie einige Eindringlinge seine und seines Bruders Hühner und Gänse zusammentrieben und griffen.

Ein wildes Schießen auf den Kirchturm
Aber eine Lücke hatte die Anlage doch. Von Curt Igels Spieker ging eine kleine, aber offenbar stark versperrte Türe auf den Kirchhof. Das wußten einige der ortskundigen Angreifer, weil sie früher in Wethen gedient hatten. Einer lief zu Curt Igels Hof und forderte von dessen Frau den Schlüssel zum Spieker. Da sie ihn aber nicht herausrücken wollte, schlug er die Frau blau und blutig, bis er den Schlüssel hatte.
Aber damit kam er zu spät. Die anderen hatten schon den Spieker erbrochen und auch die zum Kirchhof führende Tür eingeschlagen. Sie gaben dann sofort einige Schüsse ab auf das versperrte Tor. Die Außenstehenden prallten zurück und dachten, die Schüsse kämen von den Männern auf dem Kirchturm. Nachdem nun das Tor von innen geöffnet wurde, strömte die Menge der Angreifer ein, um sich für die Schüsse vom Kirchturm aus zu rächen. Zunächst wurde ein wildes Schießen auf den Kirchturm veranstaltet.
Der Pastor berichtete, beim Schießen hätten die Schiefersteine geklappert und die "Raben" seien gefallen. Die Gemeinde hätte später das Dach des Kirchturms aus dem gemeinen Kasten wieder reparieren lassen.

Die Männer auf dem Kirchturmdach
Wer war denn nun auf dem Dache des Kirchturms? Nur drei alte Männer ohne Büchsen. Zweifellos hätten diese, wenn sie bewaffnet gewesen wären, die Eindringlinge wohl erheblich in Schach halten können. Die Männer auf dem Kirchturm waren der alte Curt von Warburg, Johann Gock, der 60jährige Bruder des Pastors, und der Küster Henke Schwall.
Als nun die wütende Menge auf den Kirchhof gekommen war, holten sie gleich diese drei Leute vom Kirchturm herunter, d.h. sie prügelten sie herunter. Johann Gock und Henke Schwall kamen noch einigermaßen glimpflich davon, denn die ganze Wut richtete sich auf den alten Curt von Warburg, den sie wohl für den Anführer hielten. Es findet sich die Bemerkung, er wäre der "Verwalter" (des Asseler Holzes?) gewesen. Sie schlugen ihn, bis er mit blutigen Kopfwunden wie tot zur Erde fiel, und trotzdem wurde auf ihn noch weiter geschlagen.
Er wäre wohl nicht mit dem Leben davongekommen, wenn nicht Henrich Neussen und Bürgermeister Johann Geier eingeschritten wären und mit "Hand und Mund" vor weiterer Gewalt ihre Mitbürger gewarnt und zum Frieden geraten hätten.

Wie es Jost Schlechter erging
Jost Schlechter, anders genannt Suderland, berichtete, er sei mit seiner Frau zum Kirchturm gelaufen, hätte aber das Tor verschlossen gefunden. Indem sei aber der ganze Haufen gerannt gekommen und hätte ihn in eine Ecke zwischen Kirchhofstor und Kirche gedrängt. Seine Frau hätte davonlaufen können und hätte sich vor dem Dorf in ein Immenhaus verkrochen. Ihn hätten sie in guter Anzahl eingeschlossen, hätten auch sogar auf ihn geschossen, so daß man noch heute die Zeichen davon um die Kirchhofstür sehen könne. Einer, Christoph Fischer mit der langen Barte, hätte ihn aufs Haupt geschlagen. Er hätte sich weiter gewehrt, aber man habe ihn dann mit vereinten Kräften überwältigt. Seine beiden Arme habe man schwarz geschlagen. Er sei dann gefangengenommen worden, aber trotzdem noch weiter geschlagen worden.
Da sei Herbold Thebes dazugekommen und hätte gesagt: "Nein, wie will das werden, wenn ein ehrlicher Gesell sich gefangengibt, daß man den gleichwohl schlagen will?" Als sie ihn dann vom Kirchhof abführten, sei wieder einer gerannt gekommen und wollte über ihn fallen. Da habe Herbold Thebes zu demselben gesagt: "Wollt Ihr ihn denn fressen, so nehmt ihn hin." Da habe der von ihm abgelassen.
Als sie ihn dann weiter abführten, habe er gesehen, wie ein Junge von seiner Mutter Hof gelaufen gekommen sei und habe eine Gans um seinen Hals geschlungen. Da sei er zugesprungen, habe dem Jungen die Gans abgenommen und vor seine Haustür geworfen. Einer seiner Bewacher habe daraufhin dem Jungen mit der Barten um den Hals geschlagen mit dem Bemerken, daß man diesen Jungen nicht kenne.

Alle Spieker erbrochen
Anderen Einwohnern von Wethen ging es nicht besser. Rotger Schulten wurde zur Erde geschlagen. Joachim Igels und Hermann Haurand wurde der "Kopf entzweigeschlagen". Andere kamen mit Prügel davon. Alle Spieker wurden erbrochen und durchsucht. Die Brüder von Jost Schlechter hatten sich in einem Spieker versteckt. Man suchte nach ihnen, aber die Mutter hatte gesagt, sie seien heute morgen zum Herrendienst gegangen. Als die Mutter ihre Söhne davon verständigte und ihnen sagte, was im Dorf los sei, beschlossen sie, sich zu stellen, wofür sie erhebliche Schläge erhielten.

Nach Warburg abgeführt
Alle Haustüren, soweit sie abgeschlossen waren, wurden nun aufgebrochen. Überall untersuchte man Kisten und Kasten und beraubte sie, auch Speck nahm man mit. Die Fensterscheiben, damals ein kostbares Gut, wurden eingeschlagen. Schließlich holte man einen großen Teil der Bauern zusammen, um sie gefänglich nach Warburg zu abzuführen. Auch die noch stark blutenden Männer, so der alte Carl von Warburg, mußten mit. Als sie abzogen, lag die Dorfstraße voller Kleidungsstücke. Unterwegs im Felde warfen die Angreifer einen Teil ihrer Beute weg. Auch einen Teil der im Dorf geraubten Pferde ließ man im Feld wieder laufen.
Als der traurige Haufen vor den Toren von Warburg angekommen war, wurde er in Empfang genommen von Georg von Geismar, der die Gefangenen auf die Herberge verteilte. Wieviel die Gefangenen eigentlich waren, wird nirgends erwähnt. Vermutlich sind es etwa 15 bis 20 Mann gewesen. Trotz der Fragen des Richters, wie stark denn die Angreifer gewesen wären, konnte keiner der verhörten Zeugen präzise Auskunft geben. Es hieß dann in den Aussagen immer, es sei ein starker Haufen gewesen, unter dem sich auch einige Leute aus den um Warburg liegenden Dörfern befunden hätten. Auch auf die Frage des Vernehmungsrichters, wen man denn nun erkannt hätte von den Angreifern, erfolgte eine Antwort, daß man nur zwei oder drei deren erkannt hätte. Es scheint so, als ob die besseren und bekannteren Bürger der Stadt Warburg sich diesem Zuge nach Wethen nicht angeschlossen hatten.
Die Gefangenen wurden nach etwa vier Tagen wieder entlassen bis auf Curt von Warburg, den man noch eine geraume Zeit länger in Haft behielt. Von den ihm geraubten sechs Pferden hat er auch nur deren vier wiedererhalten können.
Zu dieser Schilderung ist zu bemerken, daß im auslaufenden Mittelalter öfters Dörfer, die von feindlichen Einfällen bedroht waren, sich um Kirchturm und Friedhof, die ja meist auf einem erhöhten Punkte lagen, eine primitive Verteidigungsanlage geschaffen hatten. Insofern ist die Wethener Anlage nichts grundsätzlich Neues. Immerhin habe ich bislang nichts derartiges von waldeckischen Dörfern gehört.
Die Wethener Anlage hatte eine beachtliche Verteidigungskraft durch den geschlossenen Ring steinerner Spieker, den Vorgängern der heutigen Scheunen. Die Spieker waren Vorratshäuser, die vom Hof abgesondert standen.
Die Warburger richteten jedenfalls ihren überraschenden Angriff sofort gegen diese Anlage und brachten hier ihr Geschütz in Stellung, das sie vielleicht nur wegen dieser Anlage mitgebracht hatten. Wenn nun in diesem Fall wegen der Plötzlichkeit des Überfalls der Turm und der Kirchhof nur mit drei unbewaffneten Männern besetzt war, so brachte die Anlage den Angriff der Warburger doch etwas in Stocken, und die Warburger fühlten sich erst dann als Herren der Lage, als sie die Anlage in ihrer Hand hatten.


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