"Geschichten aus Wethen"


Heinrich Heine und Heinrich Drolshagen erzählen aus alten Zeiten

Aufgezeichnet von Ursula Wolkers, veröffentlicht in "Mein Waldeck", Beilage der Waldeckischen Landeszeitung für Heimatfreunde, Nr. 13, 1986. Nachdruck nur mit Genehmigung der Waldeckischen Landeszeitung.

In das gemütliche Atelier des inzwischen verstorbenen Wethener Malers Wilhelm Diedrich sind die beiden alten Herren gerne gekommen, um einmal über alte Zeiten zu sprechen. Der 88jährige Heinrich Heine und der 84jährige Heinrich Drolshagen haben den größten Teil ihres Lebens in ihrem Heimatdorf verbracht. Sie sprechen von schweren Zeiten, die sie in ihrer Jugend durchmachen mußten, aber auch von lustigen Begebenheiten und von Menschen, die in ihrer Erinnerung weiterleben. Anekdoten aus dem Dorfleben und sogar wörtliche Aussprüche, die ein Schlaglicht auf eine Situation oder auf den Charakter eines Menschen werfen, sind über Generationen hinweg lebendig geblieben und werden immer noch gern erzählt, wenn Wethener zusammenkommen.

Wethen, heute ein Stadtteil von Diemelstadt, war früher ein Dorf mit großen und reichen Bauernhöfen. Der fruchtbare Boden brachte den Wethenern den Spottnamen „Möhrenbälge“ ein. Die beiden alten Herren hatten aber nicht das Glück und den Vorzug, zu den Familien der wohlhabenden „Buren“ zu gehören. Ihr Berufsleben begann, wie bei den meisten ihrer Altersgefährten, damit, daß sie gleich nach der Konfirmation als Pferdeknechte auf einen großen Hof kamen.

Lebensläufe
Heinrich Heine heißt „genauso wie der große Dichter“. Um seinem Namen Ehre zu machen, hat er vor einigen Jahren das Wethener Lied gedichtet, das heute bei den monatlichen Altennachmittagen und anderen Zusammenkünften gern gesungen wird. Er stammt aus einem kleinen bäuerlichen Anwesen. Seine Eltern hatten drei bis vier Kühe und zwei Ochsen. Seine Kindheit war durch Krankheit und Tod in de Familie schwer belastet. Als er sechs Jahre alt war, starb sein Vater. „Influenza“ hatte der Landarzt rasch diagnostiziert, als er krank wurde. Als sich sein Zustand nicht besserte, wurde er zu Hofrat Dr. Mannel nach Arolsen gebracht. Der stellte eine vereiterte Rippenfellentzündung fest und operierte und behandelte den Landwirt kostenlos. Aber er war nicht mehr zu retten. Nach dreijährigem Krankenlager starb er. Zuvor war ein zweijähriger Bruder Heinrich Heines an Diphtherie gestorben. Nun blieben der Mutter nur noch Karl, der Älteste, und er vier Jahre jüngere Heinrich. Sie mußte das Haus verkaufen. Karl kam nach der Schulentlassung zum Bauern in Dienst. Mit 17 Jahren starb er an einer Lungenentzündung, die er nicht auskurieren konnte.
Für Heinrich gab es keine andere Möglichkeit, als ebenfalls mit 14 Jahren in Dienst zu gehen. Mit 16½ Jahren zog er als Freiwilliger in den Krieg. Er wurde in Frankreich dreimal verwundet. Trotzdem wollte er nach Beendigung des Krieges beim Militär bleiben. Er verpflichtete sich auf zwölf Jahre - für viele junge Männer die einzige Chance zu einem beruflichen Fortkommen. Er war dabei, als in Thüringen der Spartakus-Aufstand niedergeschlagen wurde. Dann erkrankte die Mutter, und er kehrte nach Wethen zurück. Es folgte die Arbeit im Walde und dann die „große Urlaubsreise“ im zweiten Weltkrieg, die ihn nach Rußland und Frankreich und in Gefangenschaft nach Amerika und England brachte. Als er 1949 in sein geliebtes Heimatdorf zurückkehren konnte, traf ihn ein schwerer Schicksals- (hier fehlen wenige Zeilen in der vorliegenden Fotokopie) .. gewartet hatte.
Heute verbringt der 88jährige im Kreise seiner Familie einen friedlichen Lebensabend. Fast täglich sieht man ihn noch morgens im Dorf, wenn er die Waldeckische Landeszeitung austrägt. „Die frische Luft tut mir gut und hält mich gesund“, sagt er.

Heinrich Drolshagen kam ebenfalls mit 14 Jahren „in Dienst“. Er arbeitete auf dem größten Hof des Dorfs gemeinsam mit zwei weiteren jungen Männern „bei sechs Pferden und einem Kutschpferd“. Sein Lebensweg war von harter körperlicher Arbeit gekennzeichnet. Lange Jahr hindurch arbeitete er im Wald. Nach dem Krieg war er „Unternehmer“. Gemeinsam mit anderen hatte er einen Steinbruch. Auch hier mußte er hart arbeiten. Beide alten Herren haben jedoch ihre geistige Frische und Lebendigkeit bewahrt. Sie erzählen gern von der alten Zeit, die für sie aber gar nicht „die gute alte Zeit“ war, und freuen sich darüber, daß es der jungen Generation heute besser geht.

In Stellung
Für die meisten Jungen und Mädchen auf dem Lande gab es nach der Schulentlassung keine andere Möglichkeit, als zu einem Bauern in Stellung zu gehen. Die Jungen, halbe Kinder noch, begannen als Kleinknecht. Manche von ihnen schliefen in einem Verschlag im Pferdestall auf Stroh. Nachts wurden sie manchmal wach, wenn ihnen die Pferde die Decke fortzogen. Manche Bauern hatten auch eine Knechtekammer über dem Stall. Der Arbeitstag begann im Sommer um vier Uhr morgens. Zuerst ging’s aufs Feld. Es wurde ein Fuder Klee oder Esparsette (eine Luzerneart) für die Kühe geholt. Man kannte damals hauptsächlich die Stallfütterung. Nur im Spätsommer, wenn das Grummet abgeerntet war, hüteten die Kinder nachmittags für ein Butterbrot die Kühe auf den abgeernteten Feldern. Waren die Kühe gefüttert und der Kuhstall ausgemistet, gab es Frühstück für die Knechte: Brot, Gelee oder schwarzen Honig dazu und manchmal selbstgerösteten Kaffee aus Gerste mit etwas Milch. Um sieben Uhr ging’s ins Feld. Am Vormittag gab’s Frühstück; zum Mittag meistens „Durcheinander“ mit Erbsen, Linsen oder Bohnen. Alle freuten sich, wenn es Pfannkuchen gab. Abends stand meist eine riesige Pfanne mit Bratkartoffeln auf dem Tisch und dazu Poltermilch. Heinrich Drolshagen bekam in seiner ersten Stellung das Brot für die ganze Woche im voraus zugeteilt: für jeden Knecht gab es sechs Pfund Brot, sechs kleine selbstgemachte Handkäse, „Höppekaise“ genannt, und ¼ Pfund Butter. Nach drei Jahren kam Heinrich Drolshagen zu einem anderen Bauern. Man hatte gerade geschlachtet. Die Bäuerin legte Heinrich ein großes Stück Blutwurst auf den Teller. Der schnitt sich, wie er es gewöhnt war, ein dünnes Stückchen ab. Die Bauersfrau schaute ihn erstaunt an: „Wat ick hinnelege, muß ‘de iäten!“ sagte sie. Das hat er sich natürlich nicht zweimal sagen lassen!
Der Jahreslohn für einen Knecht war 100 Mark. Dazu kamen noch einige Deputate. Bei Heinrich Drolshagen waren es zwei Pfund Wolle, ein Paar Arbeitsschuhe und „ne Goard“ Kartoffeln. Ein Streifen geackertes Land, etwa ¼ Morgen, wurde seiner Familie zur Verfügung gestellt, damit sie darauf Kartoffeln für den eigenen Verbrauch anpflanzen konnte. Die Nagelschuhe für die Bediensteten, „Olldagesschouhe“, machte der Schuhmacher Ochse aus Wethen. „Wer Glück hatte, kriegte zur Konfirmation auch ein Paar bessere Schuhe.“

Die neue Hose
Heinrich Drolshagen erzählt eine Begebenheit aus seiner Kinderzeit. Er war etwa neun Jahre, als die Mutter beschloß, beim Schneider Rock - Rock-Schneider nannten ihn die Wethener - für ihre drei Söhne Karl, Wilhelm und Heinrich neue Manchesterhosen nähen zu lassen. Das war eine erhebliche Ausgabe, die sie sich lange überlegt hatte. Heinrich trug nun zum ersten Male stolz die neue Hose. Da traf er einen Bauernjungen. „Setz dich auf den Schleifstein“, forderte der ihn auf. Er setzte sich auf den Schleifstein, und der Junge drehte so lange, bis die nagelneue Hose durchgescheuert war. „An die Schläge, die wir dann beide von meiner Mutter bezogen, denke ich heute noch.“

Das Schnapsfaß im Keller
Vor dem ersten Weltkrieg wurde den Bauern häufig ein Teil des Getreides mit Schnaps bezahlt. Immer wieder liest man in den Zeitungen von dieser seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts üblichen geschäftlichen Gepflogenheit, die so viel Unglück über die Bevölkerung gebracht hat. Jeder Bauer hatte sein Fäßchen Schnaps im Keller, und mancher sprach ihm nur allzu eifrig zu, auch in Wethen. Hier kam es aber nicht so weit wie in den preußischen Nachbardörfern Germete und Ossendorf, daß Bauernhöfe des Schnapses wegen unter den Hammer kamen. Die Wethener Bauern verstanden es außerdem, so vorteilhaft zu heiraten, daß die Höfe keinen Schaden nahmen. Und noch ein großer Unterschied bestand zwischen den Waldecker und den westfälischen Bauern: Sie arbeiteten mit, während die Bauern jenseits der Grenze gern mit Schlips und Kragen durchs Dorf spazierten. Dort stand bei manchen noch nach Generationen „der Kuckuck im Weizen“, so daß einige in den 1920er Jahren nach Schlesien und Ostpreußen gingen.
Mitunter geschah es, daß ein Bauer an einer der jungen Mägde größeren Gefallen fand, als er eigentlich sollte. Wenn dann ein Mädchen ein Kind erwartet, wurde sie „ausgezahlt“. Vier Zentner Roggen als Alimente! Die beiden alten Herren versichern das glaubhaft. „Es mag ja sein, daß später noch etwas heimliche Unterstützung dazukam.“ Die Kinder wuchsen dann meist bei den Eltern des Mädchens auf inmitten einer großen Kinderschar. Oft erfuhren sie erst sehr spät etwas über ihre Herkunft. Ob denn die unehelichen Kinder unter ihren Altersgefährten in der Schule schief angeschaut wurden, wollte ich wissen. Meist gar nicht, wurde mir versichert, die Kinder waren in der Schule alle gleich.

Spiele und Spinnstube
Die Schuljugend und die Jungen und Mädchen, die schon im Dienst standen, hatten natürlich wenig Zeit für Kinderspiele. Aber der Sonntagnachmittag gehörte ihnen. Sie trafen sich bei der Bude unter den Linden, dort, wo auch die Dorffeste gefeiert wurden. Sie sangen Volkslieder, zogen gemeinsam in den Büllberg, und die Jungen spielten manchmal ihre Kriegsspiele. Sie teilten sich in zwei Parteien auf, und dann ging’s aufeinander los. „Und im Winter, da hatten wir die schönen Spinnstuben“. Heinrich Drolshagen erinnert sich heute noch gern an die langen Winterabende, an denen die Jugend des Dorfes zusammenkam. Bis zehn Uhr arbeiteten die Mädchen fleißig. Dann kamen die jungen Burschen. Es gab Kaffee und Kuchen, meist Kräppel. In der Spinnstube wurde eifrig erzählt, gesungen und getanzt. Um zwölf, spätestens um ½ 1 Uhr war Schluß. Die Burschen begleiteten die Mädchen durchs Dorf zu ihren Häusern. Manch zarte Bande wurden da geknüpft. Die Spinnstuben waren der „Friggemarkt“ des Dorfes.

Das feindliche Ausland
Wethen liegt im obersten Nordosten von Waldeck. Es wird vom „feindlichen Ausland“ fast eingerahmt. Germete und Ossendorf sind die nächstgelegenen Ortschaften, Warburg ist das nächste größere Zentrum. Das Verhältnis der Wethener zu ihren westfälischen Nachbarn war gelegentlich voller Spannungen. „Besonders mit den Germeter Jungen haben wir uns nicht gut vertragen“, erzählen die beiden alten Herren. „Wenn die nach Wethen kamen, gab es oft Kämpfe, die mit Stöcken und Steinen ausgetragen wurden. Mit den Ossendorfern haben wir uns dagegen immer gut verstanden.“
Die Konfessionsgrenzen spielten damals noch eine große Rolle. Wethener Mädchen blieben keineswegs in der unmittelbaren Nachbarschaft, wenn sie heirateten. Manche heirateten sogar bis ins Rheinland. Hochzeiten über die Grenze hinweg zu den westfälischen Nachbarn gab es aber früher nicht.

Lehrer Schleiermacher
Heinrich Heine und Heinrich Drolshagen sind beide bei Lehrer Schleiermacher in die Schule gegangen. Die Wethener Schule hatte 92 Kinder - und nur einen Lehrer. Der mußte sich dazu entschließen, Schichtunterricht zu geben. Die Großenschule war im Sommer von 7 bis 11 Uhr, im Winter von 8 bis 12 Uhr, die „Kleinenschule“, die die ersten beiden Jahrgänge umfaßte, fand von 1 bis 3 Uhr statt. 92 Kinder im Zaume zu halten, sie zu unterrichten und daneben noch das Schulland zu bestellen, das dem Lehrer dazu verhalf, bei seinem kleinen Einkommen über die Runden zu kommen - das war schon eine Aufgabe, die viel Kraft erforderte. Rückblickend verstehen es die ehemaligen Schüler ihres Lehrers Schleiermacher auch, daß ihr Lehrer ab und zu zum Stock griff. Prügel waren damals in der Schule das übliche Erziehungsmittel. Einer hatte Lehrer Schleiermacher einer ganzen Gruppe von ungezogenen Schülern Prügel angedroht. Als er zur Tat schreiten wollte, rief ein Junge: „Wenn du mich schlägst, kriegste keine Milch mehr von uns!“ Die anderen Kinder riefen: „Das haste richtig gemacht!“ Für diesmal kamen alle ungestraft davon. Die Kinder haben viel gelernt bei Lehrer Schleiermacher: „Rechnen konnten wir alle. Das haben wir gründlich gelernt!“. Daneben wurden Geographie, Schreiben, Singen und besonders Religion unterrichtet. War als oberster saß, d.h. wer der beste Schüler war, der wurde am Samstag zum Pfarrer Kalb geschickt, um den Choral für den Sonntag zu holen. Den übte der Lehrer dann mit den Schulkindern ein.
Wenn er am Sonntag an seiner Orgel saß, schaute er in den Spiegel, ob auch alle da waren. Hatte einer gefehlt, erfolgte montags in der Schule die „Abrechnung“.
Der Lehrer nahm im Dorf eine besondere Stellung ein. Das wurde vor allem bei Beerdigungen sichtbar, wenn er im schwarzen Frack neben dem Pfarrer vor dem Leichenzug herging.
Lehrer Schleiermacher baute den ersten Musikzug mit Trommeln und Flöten auf. Der spielte bei Festlichkeiten im Dorf, vor allem aber beim Schulfest.

Das Schulfest
Höhepunkt im Schuljahr war das Schulfest auf „Altenrodern“, einer Waldwiese im Quast. Wer laufen konnte, ging mit. Es wurden schöne Spiele gespielt. Der alte Rose mit seiner Zuckerbude durfte bei keinem Schulfest fehlen. Im Hauptberuf war er Eierhändler. Beim Schulfest packte er seine süßen Herrlichkeiten auf den Handwagen und zog zum Quast. Er führte Honigkuchen, Himbeerdrops und die verschiedensten Sorten von Zuckerstangen. Eine Zuckerstange kostete fünf Pfennig - für viele Kinder ein unerschwinglich hoher Preis.

Pfarrer Kalb
Unvergessen ist Pfarrer Kalb, der die beiden alten Herren konfirmiert hat. Sie erinnern sich daran, wie er beim Konfirmandenunterricht durch die Reihen schritt, den Kneifer auf der Nase und die Hände auf dem Rücken verschränkt. Seine Töchter fuhren im Eselswagen, im Winter im Schlitten nach Warburg in die Schule. Als Pfarrer Kalb später nach Wrexen zog, weil es dort einen Bahnanschluß gab, machten die Wethener einen Kirchenstreik, aber Pfarrer Kalb blieb in Wrexen.

Louisken
Um die Jahrhundertwende war Lehrer Vesper Lehrer in Wethen. Seine Frau hatte die Angewohnheit, abends, bevor sie die Kinder ins Bett brachte, die Kleinen zum Fenster hinaus abzuhalten. Ihr Liebling war der kleine Louis. „Louisken, puller mal!“, hörte die Nachbarschaft jeden Abend. Man beschloß, der Lehrersfrau einen Streich zu spielen. Eines Abends im Winter - es war schon stockfinster - versteckten sich junge Burschen hinter der Hausecke. Die Lehrersfrau hielt wie gewohnt ihr Louisken aus dem Fenster - da wurde plötzlich das Kind gegriffen und fortgerissen. „Wilhelm“, rief sie ihren Mann, „se ham mir min Louisken weggenommen!“ Der Lehrer und seine Frau machten sich sofort mit der Laterne auf die Suche. Wie erleichtert waren sie, als sie ihr Louisken wohlbehalten auf einer warmen Mistenstätte sitzend wiederfanden.

Moos-bloos
In Wethen lebte der Kapellmeister Maaß. Der spielte alle Instrumente, die man sich vorstellen konnte. Er hatte eine Kapelle gegründet: „Maaß-Blas“, die die Wethener „Moos-Bloos“ nannten. Mit dieser Kapelle spielte er in großem Umkreis bis weit ins Westfälische hinein auf den Schützen- und anderen Festen. Dabei verdiente er recht gut, so daß er für dörfliche Verhältnisse als „reicher Mann“ galt. Einmal hatte er Streit mit seinem Nachbarn, einem Landwirt. Der sagte empört: „Wenn ich auch nicht so viel Geld habe, meine Töchter bringen die Schönheit an ‘n Mann!“ August Maaß antwortete: „Und meine ‘s Geld!“

„Nu te late is“
Damals lebte in Wethen auch ein wohlhabender Bauer, dessen Lieblingsbeschäftigung das Essen war. Man sah es ihm auch an, denn er war so dick, daß er kaum durch die Tür paßte. „Wer gut hacket, der gut packet“, heißt ein altes Sprichwort, und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß er mehrmals am Tag jenen geheimen Ort aufsuchte, der sich am Ende des Kuhstalls befand. Seine beiden Jungknechte wollten ihn einmal so richtig ärgern. So kam es, daß er jedesmal den Ort verriegelt fand, wenn er ihn stürmen wollte. Einmal klopfte er - Einlaß begehrend - ganz verzweifelt. Aber bald rief er: „Kannst drinnebleiben. Nu te late is!“ (Es ist jetzt zu spät!). Seitdem sagte man im Dorf, wenn man von ihm sprach „Nu te late is“, und jeder wußte, wer gemeint war.

Es ist erstaunlich, wie viel Menschliches - oft auch allzu Menschliches - über Generationen hinweg sich im Gedächtnis erhalten hat und wie es in den Erzählungen auch heute noch weiterlebt. Heinrich Heine und Heinrich Drolshagen haben gern ihre Geschichten aus der alten Zeit erzählt, die keineswegs immer „die gute“ war. Es war eine Zeit, in der der Lebensraum klein und überschaubar war, in der sich jeder als Glied einer Gemeinschaft fühlte, in der er seinen festen Platz hatte.


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