"Geschichten aus Wethen"


Luise Rosenstock und Luise Mühlbächer berichten vom Kampf beim Einmarsch der Amerikaner in Wethen:
"31. März 1945: Der Tag, an dem Klärchen Diedrich starb", aufgezeichnet von Ursula Wolkers, veröffentlicht in der Waldeckischen Landeszeitung, 7./8. Mai 2005


In den Tagen von Karfreitag bis Karsamstag 1945 fuhren die amerikanischen Panzer in langen Kolonnen durch das Gebiet von Waldeck-Frankenberg. In vielen Orten konnten einsichtige Menschen die meist jugendlichen SS-Leute von dem aussichtslosen Unterfangen abhalten, die amerikanischen Panzerkolonnen mit der Panzerfaust aufhalten zu wollen. Wo entgegen jeder Vernunft doch Widerstand geleistet wurde, kam es noch in allerletzter Minute zu Kämpfen, bei denen viele Menschen ihr Leben lassen mussten und Gebäude zerstört wurden.

In Wethen denken die Menschen, die das Kriegsende hier miterlebt haben, an den 31. März 1945, der viel Leid über mehrere Familien im Oberdorf gebracht hat. Luise Mühlbächer, geb. Tepel, aus der Hinteren Steinstraße (geb. 1935) und Luise Rosenstock, geb. Diedrich (geb. 1929), berichten über den schicksalhaften Tag, den die damals zehnjährige Luise Mühlbächer als Augenzeugin erlebt hat.

Luise Diedrich, Tochter des Schreinermeisters Christian Diedrich, war 16 Jahre alt und leistete zu der Zeit ihr Pflichtjahr im Dorf ab bei der Familie Christian Marpe. Als sie von fern her die Panzer hörte, lief sie rasch in ihr Elternhaus in der Teichstraße. Gemeinsam mit Vater, Mutter und ihrer 23-jährigen Schwester Klärchen stand sie am Fenster und beobachtete die lange Panzerkolonne, die von der Rhoder Straße rasch näher rückte. "Scheinbar fahren sie durch", sagte der Vater, aber da stockte schon die Kolonne am Dorfeingang und die Schießerei begann. Eine Truppe junger SS-Leute war von Warburg her nach Wethen gekommen, um das Dorf zu verteidigen. Als die Amerikaner gegen 9 Uhr Wethen erreichten, wurden die beiden ersten leichten Panzerspähwagenmit Panzerfäusten außer Gefecht gesetzt und brannten aus. Angeblich sollen dabei zwei amerikanische Soldaten ums Leben gekommen sein. Daraufhin zogen sich die Amerikaner in Richtung Rhoden zurück und beschossen aus allen Rohren das Dorf.

Als das Schießen begann, suchte Familie Diedrich im Keller ihres Hauses Schutz. Bei ihnen lebte während der letzten Kriegsjahre die Cousine Luise Kahlhöfer aus Hagen mit ihrer fünfjährigen Tochter Inge und seit wenigen Wochen auch Nikolai, der in der Schreinerei arbeitete. Der junge Mann kam aus der Ukraine und wollte sich aus Angst vor der Roten Armee absetzen. Luises Bruder, die wie sein Vater Christian hieß und die Schreinerei übernehmen sollte, war bereits 1942 im Alter von 16 Jahren an Hirnhautentzündung gestorben.

Das Haus Diedrich wurde sofort getroffen und alles Holz, das darin verbaut war, fing Feuer. Die Familie flüchtete durch die Kellerfenster ins Freie. Der Ukrainer, der neben der Kellertüre gestanden hatte, fiel plötzlich tot um. Er war, wie Vater Diedrich später meinte, wohl von einem Querschläger getroffen worden.

Klärchen tödlich getroffen

Die Cousine aus Hagen flüchtete mit ihrer kleinen Tochter ins Feld. Luise lief hinter ihr her. Als sie merkte, dass ihre Eltern und ihre Schwester nicht bei ihr waren, kehrte sie um. Auf der Straße kam ihr der Vater mit einem versteinerten Gesicht entgegen: "Klärchen ist tot!" sagte er tonlos.

Klärchen war über die Straße gelaufen, um sich in Sicherheit zu bringen. Bei Ashauers Haus wurde sie von einem Geschoss getroffen und war sofort tot. Man bettete sie in eine Scheune in der Nachbarschaft, die bei dem Angriff stehen geblieben war.

Am Abend dieses Tages stand Christian Diedrich mit seiner Frau und seiner Tochter Luise fassungslos vor seinem Haus. Es stand nur noch die Mauer des Erdgeschosses. Alle Decken waren durchgebrochen bis auf die Kellerdecke. Im Vorratskeller bei den Einmachgläsern hatte Christian Diedrich seine Kanister und Flaschen mit Terpentin und Politur gelagert, die durch die Hitze explodiert waren. In einer Ecke des Kellers fand man später unzerstört in einem Korb Klärchens Aussteuerporzellan und einen Kasten mit ihrem Besteck. Das hat ihre Schwester Luise später benutzt.

Die Familie und die Nachbarn konnten es zunächst gar nicht fassen, dass Klärchen, die noch am Morgen quicklebendig bei ihnen gewesen war, plötzlich tot war. Später erzählten die Nachbarn, dass ein amerikanischer Offizier tief erschüttert vor dem jungen Mädchen gestanden habe, das da in der Scheune aufgebahrt lag.

Klärchen Diedrich wurde am 9. April 1922 in Wethen geboren. Nach der Konfirmation hatte sie zunächst bei der Tante Heinemann in Dehausen im Haushalt gearbeitet, später bei Pastor Kuno im Dorf. Von 1939 bis 1942 war sie in Krefeld in einem Haushalt beschäftigt. Mit der sieben Jahre jüngeren Schwester hatte sie sich sehr gut verstanden. Besonders nach dem Tod ihres einzigen Bruders wurde die Beziehung zwischen den Schwestern immer enger. Klärchen Diedrich war verlobt mit Karl Wetekam, der ebenfalls aus Wethen stammte. Karl war Soldat und war 14 Tage vor Ostern noch einmal auf Urlaub nach Hause gekommen. Dabei ist wahrscheinlich das letzte Bild der beiden Verlobten aufgenommen worden. Bei Kriegsende geriet Karl Wetekam in russische Kriegsgefangenschaft, in der er 1946 verstarb.

Ins Feld geflüchtet

Luise Mühlbächer lebte in der Nachbarschaft von Familie Diedrich in der Hinteren Steinstraße. Als die Schießerei begann, suchte ihre Mutter mit ihr und ihrer Schwester Anneliese Schutz im Keller bei Losekamps. Nachdem alles rundherum brannte und der Keller nicht mehr sicher war, rannte sie mit ihren beiden Töchtern querfeldein ins Feld. Dort haben sie einige Stunden still und in größter Angst an einem Feldhang gelegen. Nachdem die Schießerei aufgehört hatte, winkte ihnen ein amerikanischer Soldat zu, sie sollten zurück ins Dorf gehen. Am Dorfeingang kamen sie an der Scheune vorbei, in der Klärchen Diedrich aufgebahrt war. "Schaut mal, wer da liegt!" sagte die Mutter erschüttert. Luise Mühlbächer hat den Anblick des friedlich liegenden toten Mädchens nie vergessen.

Die zerstörten Häuser

Luise Rosenstock und Luise Mühlbächer gehen im Geist die Gebäude durch, die bei dem Beschuss am Morgen des 31. März 1945 im Oberdorf von Wethen zerstört wurden. Die in Fachwerkbauweise errichtete Festhalle, die die Wethener ihre "Bude" nannten, war völlig heruntergebrannt und damit auch die Holzvorräte, die der Schreiner Diedrich hier gelagert hatte, ebenfalls die benachbarte Scheune von Ashauers, in der Christian Diedrich Bretter gelagert hatte. Es folgten das Haus und die Werkstatt des Schreiners Christian Diedrich, in dem allerdings die Ziegen überlebt hatten. Zerstört waren auch die Häuser des Stellmachers Albert Striepeke, das Haus des Schäfers Johann Großjohann, des Waldarbeiters Friedrich Oxen, des Schmieds Kesper, des Landwirts Christian Ashauer sowie das Haus des Wilhelm Jäger, der beim Kornhaus angestellt war.

Bei Georg Albracht war die Scheune abgebrannt und die Kühe waren tot. Seine Tochter Luise, die in Ossendorf verheiratet ist, erzählte Luise Rosenstock kürzlich, dass in ihrem Haus die Telefonleitung getroffen war und es ununterbrochen geklingelt habe. Als ihr Vater aus dem Keller hinaufgelaufen sei, sein ein Riesenloch neben der Haustür gewesen. Niedergebrannt waren in der Teichstraße auch die Scheune von Willi Brüne und die Häuser von Karl Thöne und von dem Landwirt Beck. Das Haus von Luise Rock war stark beschädigt. Beschädigt wurde auch das Haus Kesper am "Bahnhof". Das Haus von Heinrich Flamme in der Brunnenstraße brannte ab. Bei Flammen mussten die Kühe notgeschlachtet werden.

Wiederaufbau

Der Schreinermeister Christian Diedrich kam mit seiner Frau Klara und der Tochter Luise, die als einziges von drei Kindern übrig geblieben war, zunächst bei Familie Wetekam unter und zog später zu seinem Bruder August ins Unterdorf. Erst im Rückblick erkennt Luise Rosenstock, welche Energie ihr Vater nach dem Tod von Christian und Klärchen und dem Verlust seiner Existenz damals aufgebracht hat, um einen Neuanfang zu beginnen. "Wir müssen sehen, dass wir wieder hochkommen", hat er damals gesagt, "dass wir Arbeit haben, wenn die anderen aufbauen." Er machte sich sogleich daran, die völlig zerstörte Werkstatt wieder zu errichten. Aus dem Schutt zog er das Werkzeug hervor, das er teilweise wieder herrichten konnte. Einmal bekam er aus Kassel Bescheid, dass in Wettesingen eine Hobelbank zu holen sei. In Begleitung seiner Tochter Luise machte er sich mit einem Fuhrwerk auf den langen Weg, der durch die inzwischen errichtete Zonengrenze noch beschwerlicher war. Als sie in Wettesingen ankamen, war die Hobelbank bereits vergeben.

Luise Rosenstock denkt mit Dankbarkeit daran, dass ihnen damals viele Menschen geholfen haben. Dazu gehörte vor allem der Müller Küting aus der Kliffmühle, bei dem der Vater früher als Schreiner viel gearbeitet hatte.

Die Wethener Bauern halfen denen, die alles verloren hatten, mit unentgeltlichen Fuhren. Im Dorf wurde eine Kleidersammlung durchgeführt, mit der die dringendste Not gelindert wurde. Luise Rosenstocks späterer Schwiegervater wollte sein Haus aufstocken und hatte bereits Holz besorgt. Er stellte seinen eigenen Plan zurück und Christian Diedrich konnte sein Holz für den Wiederaufbau benutzen. Bereits im Sommer 1945 stand die Werkstatt wieder. Erst ein Jahr später zog die Restfamilie des Schreiners Diedrich wieder zurück in die Teichstraße. Zunächst war nur die Küche fertig und ein Schlafzimmer, in dem die Eltern Diedrich zusammen mit Luise schliefen. Es ging bescheiden genug zu, aber der erste Schritt zu einem schwierigen Neuanfang war getan.


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